NEUNUNDVIERZIG
Ich biege in Avas Einfahrt ein, stelle das Auto schlampig ab und laufe so schnell zur Haustür, dass ich die Stufen kaum wahrnehme. Doch sowie ich oben ankomme, trete ich einen Schritt zurück, denn irgendetwas wirkt unheimlich, verkehrt und auf eine Art, die ich nicht erklären kann, sonderbar. Irgendwie zu ruhig, zu still. Obwohl das Haus genauso aussieht wie zuletzt - Blumentöpfe auf beiden Seiten der Tür, Fußmatte an Ort und Stelle -, ist es auf beklemmende Weise statisch. Und als ich an die Tür klopfe, schwingt sie einfach auf.
Ich gehe durchs Wohnzimmer in die Küche, rufe nach Ava und stelle fest, dass alles noch genauso ist wie bei meinem letzten Besuch - Teetasse auf der Arbeitsfläche, Kekse auf einem Teller, alles an seinem gewohnten Platz. Doch als ich in den Küchenschrank spähe und sehe, dass Gegengift und Elixier weg sind, weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich habe keine Ahnung, ob das heißt, dass mein Plan funktioniert hat und beides gar nicht gebraucht wurde, oder ob das Gegenteil zutrifft und irgendetwas schiefgegangen ist.
Ich stürme zu der indigoblauen Tür am Ende des Flurs, weil ich unbedingt nachsehen will, ob Damen noch da ist, werde jedoch von Roman aufgehalten, der die Tür blockiert. Mit breitem Grinsen sagt er: »Wie schön, dich wieder hier zu haben, Ever. Aber ich habe Ava gleich gesagt, dass du bald wieder da sein würdest. Du weißt ja, wie es heißt - du kannst nicht nach Hause zurückkehren!«
Ich mustere sein kunstvoll zerzaustes Haar, das das Ouroboros-Tattoo an seinem Hals perfekt umrahmt, und weiß, dass er trotz meiner Fortschritte und obwohl ich meine Mitschüler aufwecken konnte, immer noch die Oberhand hat.
»Wo ist Damen?« Ich suche sein Gesicht nach einer Antwort ab, während sich mein Magen verkrampft. »Und was hast du mit Ava gemacht?«
»Na, na.« Er lächelt. »Mach dir keine Sorgen. Damen ist genau da, wo du ihn zurückgelassen hast. Obwohl ich, offen gestanden, gar nicht fassen kann, dass du ihn verlassen hast. Offenbar habe ich dich unterschätzt. Ich hatte ja keine Ahnung. Allerdings frage ich mich schon, wie Damen es finden würde, wenn er Bescheid wüsste. Ich wette, er hat dich auch unterschätzt.«
Ich schlucke schwer und muss an Damens letzte Worte denken: Du hast mich verlassen. Er hat mich ganz und gar nicht unterschätzt, er wusste genau, welchen Weg ich einschlagen würde.
»Und was Ava angeht...« Roman lächelt. »So wird es dich freuen zu hören, dass ich überhaupt nichts mit ihr gemacht habe. Du solltest mittlerweile wissen, dass ich nur Augen für dich habe«, murmelt er und bewegt sich so schnell, dass ich kaum blinzeln kann, als sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt ist. »Ava ist von sich aus gegangen. Damit wir ungestört sind. Und jetzt, da es nur noch eine Frage von ...« Er hält inne, um auf die Uhr zu sehen. »Na ja, Sekunden ist, bis du und ich es offiziell machen können. Du weißt schon, ohne die lästigen Schuldgefühle, die du gehabt hättest, wenn wir früher zusammengekommen wären - ehe er Gelegenheit hatte dahinzuscheiden. Nicht dass ich Schuldgefühle gehabt hätte, aber du kommst mir vor wie jemand, der sich selbst gern als gut und rein und voll der besten Absichten und diesen ganzen Schwachsinn empfindet, was für meinen Geschmack ein bisschen zu kitschig ist. Aber wir finden sicher einen Weg, das alles aufzuarbeiten.«
Ich blende seine Worte aus, während ich meinen nächsten Schritt plane. Ich versuche, seinen Schwachpunkt auszuloten, seine Achillesferse, sein verletzlichstes Chakra. Da er die Tür blockiert, durch die ich hindurch muss, die Tür, die zu Damen führt, muss ich ihn ausschalten. Doch ich muss vorsichtig handeln. Wenn ich ihn attackiere, muss es schnell sein, unerwartet und sofort ins Schwarze treffen. Sonst gerate ich in einen Kampf, den ich womöglich nicht gewinne.
Er streichelt mir die Wange, und ich schlage so fest nach ihm, dass man seine Knochen knirschen hört, während seine zerschmetterten Finger schlaff vor mir baumeln.
»Aua.« Er lächelt, schüttelt die Hand und biegt seine augenblicklich verheilten Finger gerade. »Du bist mir vielleicht eine Kratzbürste. Aber du weißt, dass mich das nur noch schärfer macht, oder?« Ich verdrehe die Augen und spüre seinen kalten Atem an meiner Wange, als er sagt: »Warum hörst du nicht auf, mich zu bekämpfen, Ever? Warum stößt du mich weg, wenn ich das Einzige bin, was dir geblieben ist?«
»Warum tust du das?«, frage ich, und mein Magen verkrampft sich, während seine Augen finster und schmal werden, bis keinerlei Licht oder Farbe mehr in ihnen enthalten ist. »Was hat dir Damen denn getan?«
Roman wirft den Kopf in den Nacken und sieht mich durchdringend an. »Das ist ganz einfach, Schätzchen.« Auf einmal verändert sich seine Stimme, verliert ihren britischen Akzent und nimmt einen Tonfall an, den ich noch nie an ihm vernommen habe. »Er hat Drina umgebracht. Also bringe ich ihn um. Dann sind wir quitt. Fall erledigt.«
Sowie er es ausspricht, weiß ich es. Ich weiß genau, wie ich ihn überwältigen und durch diese Tür gehen kann. Denn neben dem Wer und dem Wie habe ich jetzt auch das Warum. Das ungreifbare Motiv, nach dem ich die ganze Zeit gesucht habe. Und jetzt steht zwischen Damen und mir nur noch ein fester Schlag gegen Romans Nabelchakra oder den Solarplexus, wie man die Stelle auch manchmal nennt - den Hort von Eifersucht, Neid und irrationaler Besitzgier.
Ein fester Schlag, und Roman ist Geschichte.
Doch vorher muss ich noch etwas anderes erledigen. Und so sehe ich ihn mit festem Blick an und entgegne: »Aber Damen hat Drina nicht umgebracht. Das war ich.«
»Netter Versuch.« Er lacht. »Jämmerlich und ein bisschen kitschig, wie ich schon gesagt habe, aber so funktioniert es leider nicht. Auf die Art kannst du Damen nicht retten.«
»Aber warum denn nicht? Wenn du so an Gerechtigkeit interessiert bist, Auge um Auge und so weiter - dann solltest du wissen, dass ich es getan habe.« Ich nicke und spreche lauter und eindringlicher weiter. »Ich habe dieses Miststück umgebracht.« Ich sehe ihn schwanken, ganz leicht nur, aber doch genug, dass ich es bemerke. »Sie war ständig in der Nähe, völlig besessen von Damen. Das hast du doch sicher gewusst, oder? Dass sie total auf ihn fixiert war?«
Er zuckt zusammen, ohne meine Worte zu bestätigen oder zu leugnen, doch dieses Zucken reicht mir schon, um weiterzumachen, da ich weiß, dass ich seine wunde Stelle getroffen habe. »Sie wollte mich aus dem Weg räumen, damit sie Damen für sich allein haben konnte, und nachdem ich monatelang versucht habe, sie zu ignorieren, und gehofft habe, dass sie irgendwann verschwindet, war sie dumm genug, bei mir zu Hause aufzukreuzen und mich zur Rede stellen zu wollen. Als sie, na ja, als sie nicht einlenken wollte, sondern stattdessen auf mich losgegangen ist, habe ich sie umgebracht.« Ich zucke die Achseln und erzähle die Geschichte mit wesentlich mehr Gelassenheit, als ich sie seinerzeit empfunden habe, indem ich meine eigene Unfähigkeit, meine Ignoranz und meine Ängste unter den Tisch fallen lasse. »Und es war ja so leicht.« Ich lächele und schüttele den Kopf, als durchlebte ich den Augenblick noch einmal. »Im Ernst. Du hättest sie sehen sollen. Im einen Moment stand sie mit ihrem flammend roten Haar und der weißen Haut noch vor mir, und im nächsten war sie einfach verschwunden! Übrigens ist Damen nicht aufgetaucht, bis alles vorbei war. Du siehst also, wenn irgendjemand schuldig ist, dann ich, nicht er.«
Ich sehe ihn unverwandt an, die Fäuste zum Zuschlagen bereit, und begebe mich mitten in seinen Dunstkreis, während ich weiterspreche. »Na, was sagst du jetzt? Willst du immer noch mit mir gehen? Oder möchtest du mich lieber umbringen? So oder so, ich kann dich verstehen.« Ich lege ihm eine Hand auf die Brust und stoße ihn unsanft gegen die Tür, wobei ich mir denke, wie einfach es wäre, die Hand nur um ein paar Zentimeter zu senken, richtig fest zuzuschlagen und so alles ein für alle Mal zu erledigen.
»Du«, sagt er, und das Wort klingt eher fragend, wie der Ausdruck einer Gewissenskrise, gar nicht so vorwurfsvoll, wie er es gemeint hat. »Du - nicht Damen?«
Ich nicke mit angespannten Muskeln, mein ganzer Körper auf Kampf eingestellt, und ich weiß, dass mich nichts davon abhalten kann, diesen Raum zu betreten. Ich hebe die Faust, während er ruft: »Es ist nicht zu spät! Wir können ihn noch retten!«
Ich erstarre, während meine Faust auf halber Höhe in der Luft hängen bleibt, und ich nicht weiß, ob er mich übertölpeln will.
Er schüttelt den Kopf und ist sichtlich verstört. »Das wusste ich nicht«, stößt er hervor. »Ich war mir sicher, dass er es war. Er hat mir alles gegeben, er hat mir das Leben geschenkt - dieses Leben! Und ich war fest davon überzeugt, dass er...«
Er geht um mich herum und rennt den Flur hinab. »Schau du nach ihm«, ruft er. »Ich hole das Gegengift!«